V. Das kaiserliche Deutschland in der Ära Bismarcks (1871 - 1890)

In dem 1871 gegründeten deutschen Kaiserreich ist Bismarck als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident der dominierende Politiker. Die nicht nach parlamentarischen Grundsätzen aufgebaute Reichsverfassung, das Vertrauen Kaiser Wilhelms l. und seine allseits respektierte Persönlichkeit bilden die Grundlage für eine starke Regierung. Trotz dieser Voraussetzungen bleibt Bismarck selbstverständlich angewiesen auf das Parlament, wo er mit wechselnden Mehrheiten und zweimaliger Auflösung des Reichstages (1878 und 1887) seine Ziele durchzusetzen versucht. Innenpolitisches Ziel Bismarcks ist die Bewahrung der alten preußischen Gesellschaftsordnung.

Im Kulturkampf, dieser unseligen Auseinandersetzung zwischen Staat und katholischer Kirche, haben die Katholiken und die Zentrumspartei die Kirchenfreiheit nicht ohne Erfolg gegen die Eingriffe der preußischen Regierung (1870 - 1878) verteidigt. Am Ende des Kulturkampfes verlagern sich die Fronten.

Mit dem Inkrafttreten des Sozialistengesetzes im Oktober 1878 beginnt Bismarcks Kampf gegen die Sozialdemokratie, indem er die bürgerlichen Schichten auf seine Seite ziehen kann. Das Gesetz stellt eine erneute eklatante Verletzung des liberalen Rechtsdenkens dar, da eine Partei allein wegen ihrer Überzeugungen unter Sonderstrafrecht gestellt wird. Bismarcks Initiative einer staatlichen Sozialpolitik, die die aus dem Sozialistengesetz resultierenden Spannungen entschärfen soll, gelingt, wenn überhaupt, nur sehr bedingt. Die Gegensätze zwischen Arbeiterschaft und Industrieverbänden nehmen zu.

Die innenpolitischen Probleme gehen einher mit einer außenpolitischen Situation, die nicht weniger spannungsgeladen ist. Die Sicherung des ”Status quo" in Europa ist das Leitprinzip Bismarcks. Ein kompliziertes Bündnissystem soll die Einbindung des Reiches in das europäische Gleichgewichtssystem gewährleisten, was aber nur vorübergehend gelingt. Das Bismarcksche Prinzip der Stabilisierung des konservativen Staates führt innenpolitisch zum Bruch mit dem nationalen Liberalismus (1878/79). In der Folgezeit verlieren die Liberalen ihren Einfluß auf die politische Entwicklung im Reich.

Das Ende der Bismarckzeit ist gekennzeichnet durch ein Zusammengehen von reaktionärer Staatsführung und einer von den ”Junkern” beherrschten Agrar- und Schwerindustrie. Wachsende Auseinandersetzungen zwischen Bismarck und Kaiser Wilhelm ll. führen 1890 zur Entlassung des Reichskanzlers. Die grenzenlose Selbstüberschätzung des jungen Kaisers, dem die Fähigkeiten und Kenntnisse zur Staatsführung fehlen, führt das Land in eine schwere Regierungskrise. Seine imperialistische Weltpolitik, die darauf abzielt, innenpolitische Schwierigkeiten zu verdecken, scheitert nicht nur, sondern führt schließlich in das Desaster des Ersten Weltkrieges.